MEISTERWERKE der Menschheit – durch oder trotz Behinderung?

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Teil I: Beethovens Sinfonie Nr. 9

Die Hymne der Europäischen Union ist das geniale Werk eines Menschen mit Behinderung. Beethoven war vollständig ertaubt, als 1824 seine weltberühmte Sinfonie Nr. 9 uraufgeführt wurde, in der er auch die „Ode an die Freude“ (ein Gedicht von F. Schiller) vertonte.
Als 1985 die reine Instrumentalversion dieser Ode (arrangiert von Herbert von Karajan), welche im Original von einem Chor gesungen wird, von der Europäischen Gemeinschaft als offizielle Europahymne angenommen wird, hieß es in der Begründung, „sie versinnbildliche die Werte, die alle teilen, sowie die Einheit in der Vielfalt“.

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Sagenhafte Karriere eines Werkes

Richard Wagner stieg während der Deutschen Revolution 1848/49 mit der 9. Sinfonie auf die Dresdner Barrikaden.

1960 schrieb Schostakowitsch seine Musik zum Film „Fünf Tage – fünf Nächte“, in dem er die Ode an die Freude im Satz „Das befreite Dresden“ zitiert.

1970 wurde der Rocksänger Miguel Rios weltberühmt mit „A song of joy“, einer Pop-Version der Ode an die Freude.

1971 kommt Stanley Kubricks Romanverfilmung „A Clockwork Orange“ von Anthony Burgess in die Kinos , in dem die Hauptgestalt die 9. Sinfonie Beethovens geradezu vergöttert und sich von dem Werk zu Gewaltexzessen inspirieren lässt.

Beethovens 9. Sinfonie war der Grund, warum 1978 die Länge des neuen Tonträgers „Audio-CD“ auf 74 Minuten festgelegt wurde: man sollte dieses Werk vollständig und ohne CD-Wechsel hören können.

Anlässlich des Falls der Berliner Mauer vom 9. November 1989 änderte Leonard Bernstein für die Aufführung in Berlin am 25. Dezember desselben Jahres den Text von „Freude schöner Götterfunken“ in „Freiheit schöner Götterfunken“ um.

2020 läuft in der ARD der Film „Die Akte Beethoven“ (mit Lars Eidinger in der Hauptrolle). Er ergründet die Zusammenhänge zwischen Krankheit und Werk des Musikgenies.

Am 09. März 2022 spielen Musiker des Kiewer Sinfonieorchesters auf dem Maidan-Platz ihrer zerbombten Stadt die ukrainische und europäische Hymne und nehmen damit verzweifelt und beeindruckend Stellung für Frieden und gegen den Krieg in ihrer Heimat.

Und vielleicht tauscht in 2023 jemand das Wort „Brüder“ gegen ein genderkonformes Wort aus: leider funktioniert melodisch weder „Schwestern und Brüder“, „Geschwister“ noch „G’schwister“.

Vorschläge erwünscht!

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Schlechtes Sehen trennt von den Dingen, Schwerhörigkeit hingegen trennt von den Menschen.

Was für eine sagenhafte Karriere eines Werkes – geschaffen von einem Menschen mit Behinderung! Beethoven litt unsäglich unter ihr. 1801, im Alter von 31 Jahren, schreibt er in einem Brief:

Der neidische Dämon hat meiner Gesundheit einen schlimmen Streich gespielt, nämlich mein Gehör ist seit drei Jahren immer schwächer geworden [Schwerhörigkeit]…nur meine Ohren, die sausen und brausen Tag und Nacht fort [Tinnitus]. …Ich bringe mein Leben elend zu. Seit zwei Jahren meide ich alle Gesellschaften, weils mir nicht möglich ist, den Leuten zu sagen, ich bin taub. Hätte ich irgend ein anderes Fach so gings noch eher, aber in meinem Fach ist es ein schrecklicher Zustand. …Die hohen Töne von Instrumenten und Singstimmen höre ich nicht [Hochtonverlust], wenn ich etwas weit weg bin, auch die Bläser im Orchester nicht. Manchmal auch hör ich den Redner, der leise spricht, wohl, aber die Worte nicht [Sprachverständlichkeitsverlust], und doch, sobald jemand schreit, ist es mir unausstehlich [Hyperakusis].

Beethoven beschreibt die charakteristische soziale Isolation des Schwerhörigen, die Schwerhörigkeit als Krankheit, die im wahrsten Sinne des Wortes doppelt unsichtbar ist: Man kann sie nicht sehen, und der Betroffene macht sich unsichtbar. Beethoven zieht sich aus der Welt der Hörenden zurück. Ein bestimmender Teil seines Menschseins geht Beethoven unaufhaltsam verloren.

Es war Emanuel Kant, der anmerkte: „Schlechtes Sehen trennt von den Dingen, Schwerhörigkeit hingegen trennt von den Menschen.“.

Behinderung – Hilfsmittel und Arbeit

Beethovens Hörrohr; Bildrechte: muk.ac.at

Gehörlosigkeit gehört (neben Blindheit, Schwerhörigkeit und Taubblindheit) zur sogenannten Sinnesbehinderung.
Beethoven ging zu unzähligen Ärzten und weilte in verschiedenen Sanatorien, aber die besten Ärzte seiner Zeit konnten ihm nicht helfen. Es war der Erfinder des Metronoms Johann Melzel, der Beethoven 1814 eine kleine Hilfe zukommen ließ: ein Hörrohr. Eine weitere Unterstützung war ein an seinem Konzertflügel befestigter Holzstab, den Beethoven zwischen seine Zähne nahm. Auf diese Weise hatte er ein Vibrationsempfinden.

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Der kranke Beethoven hatte Suizidgedanken. Seine Arbeit rettete ihn. Der Verlust des Hörens und kühne Kompositionen – eigentlich ein Widerspruch, und doch waren sie bei Beethoven vereinbar.

Hätte Beethoven damals ein Hörgerät heutiger Qualität besessen – hätte es dann eine 9. Sinfonie dieser weltumspannenden wie zeitlosen Ausdrucks- und Anziehungskraft gegeben?

Als Mensch hätte ich ihm ein solches Hörgerät gewünscht, als Person, die Musik als „systemrelevant“ empfindet, bin ich dankbar für seine Behinderung, die seiner Genialität nicht im Wege stand.

Im Gegenteil.

 

Sybille Nütt, Mai 2022

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Quellen und weiterführende Links:

Behinderungen und ihre Unterscheidungen
www.bildungsserver.de/formen-der-Behinderung-1008-de.html


 „Beethovens Blues. Was hört, wer nichts hört?“ Deutschlandfunk
https://radiohoerer.info/feature-beethovens-blues-was-hoert-wer-nichts-hoert-von-stefan-zednik/


„Die Akte Beethoven“. Fernsehfilm der Sender Arte/WDR
https://programm.ard.de/TV/wdrfernsehen/die-akte-beethoven/eid_281112731102797


„Wie ein Verbannter muß ich leben“. Historisch-kritische Klinische Bewertung im Ärzteblatt
https://www.aerzteblatt.de/archiv/34009/Beethovens-Taubheit-Wie-ein-Verbannter-muss-ich-leben


Dokumente des Beethovenarchivs Bonn zu Beethovens Schwerhörigkeit. Kurzvideo auf YouTube
https://www.youtube.com/watch?v=ggeiR2sN2BA


„Beethovens Taubheit“. Festvortrag Nationale Akademie der Wissenschaften
https://www.welt.de/print/die_welt/article205090586/Kein-Geheimnis-sei-dein-Nichthoeren-mehr.html


Wieder in Arbeit, wieder Lebenssinn
www.gut-leben.de

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